Das Oberlandesgericht Köln hat in einem Urteil vom 21.03.2016 (Az. 5 U 76/14) das Selbstbestimmungsrecht der Patienten gestärkt.
Geklagt hatte eine Frau, die an Brustkrebs erkrankt war. Nach der Entfernung des Tumors hatten die Ärzte der Patientin zu einer Chemotherapie geraten. Dabei ist die Frau zwar über das bekannte Risiko des vorübergehenden Haarverlusts, nicht aber über das Risiko aufgeklärt worden, dass es zu einem dauerhaften Verlust der Behaarung auf Kopf und Körper kommen kann. Dieses Risiko trat nach der Chemotherapie ein. Die Patientin begründete ihre Klage damit, dass sie weder über das Risiko des dauerhaften Verlustes ihrer Haare noch darüber aufgeklärt worden sei, dass es zu den bei der Chemotherapie verwendeten Medikamenten Behandlungsalternativen gegeben habe. Das Landgericht Köln hat diese Klage abgewiesen. Im Zeitpunkt der Behandlung sei nicht bekannt gewesen, dass die verwendete Chemotherapie zu dauerhaftem Haarausfall führen könne. Deshalb hätten die Ärzte die Patientin darüber nicht aufklären müssen. Darüber hinaus verwirkliche sich das Risiko dauerhaften Haarverlusts so selten – Studien gingen davon aus, dass maximal 1,5% der Patientinnen betroffen seien -, dass das Gericht nicht glaube, dass die Patientin – hätte man sie über das Risiko aufgeklärt – sich gegen die Chemotherapie entschieden hätte.
Nachdem die Patientin Berufung eingelegt hatte, hat das Oberlandesgericht ein neues Sachverständigengutachten eingeholt. Der neue Sachverständige zeigte zunächst auf, dass das Risiko dauerhaften Haarverlusts auch im Zeitpunkt der Chemotherapie schon bekannt war. Das Oberlandesgericht zog daraus den Schluss, dass die klagende Patientin dann auch über dieses Risiko hätte aufgeklärt werden müssen. Das Gericht nahm Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der auch über selten eintretende Risiken aufgeklärt werden muss, wenn diese die Lebensführung des Patienten nachhaltig beeinflussen können.
Spannender ist der nächste Begründungsschritt des Oberlandesgerichts. Steht fest, dass die Aufklärung des Patienten mangelhaft war, kann die Arztseite immer einwenden, dass der Patient sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung aber trotzdem für die vorgeschlagene Behandlung entschieden hätte. Liegt eine gefährliche oder lebensbedrohliche Erkrankung vor und war die vorgeschlagene Behandlung medizinisch notwendig, dann tendieren Gerichte dazu, diesem Einwand zu folgen. Das ist rational auch nachvollziehbar, weil viele Patienten in einer derartigen Situation der Empfehlung des Arztes folgen. Der Bundesgerichtshof betont in seiner Rechtsprechung zu dieser Frage, dass es bei der Entscheidung dieser Frage aber nicht darauf ankommt, wie ein rational handelnder Patient handeln würde, sondern darauf, wie der konkrete Patient sich in der konkreten Situation vor der Behandlung entschieden hätte. Nur so könne dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten Geltung verschafft werden. Deshalb ist es zwingend notwendig, dass das Gericht den Patienten zu dieser Frage persönlich anhört, um sich einen unmittelbaren Eindruck zu machen. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil eines anderen Oberlandesgerichts allein deshalb aufgehoben, weil die persönliche Anhörung unterblieben war (Urteil vom 30.09.2014, Az. VI ZR 443/13). An diese Vorgaben hat sich das Oberlandesgericht Köln gehalten und die klagende Patientin zu der Frage, wie sie sich entschieden hätte, wenn sie über das Risiko dauerhaften Haarausfalls aufgeklärt worden wäre, intensiv befragt. Es ist der Patientin bei dieser Anhörung gelungen, dem Gericht nachvollziehbar zu machen, dass ihre Haare für sie von so großer Bedeutung waren, dass sie deshalb ihre Entscheidung für die Chemotherapie auf den Prüfstand gestellt hätte, hätte sie vom Risiko dauerhaften Haarverlusts gewusst.
Dass das Gericht sich auf diese Erklärung eingelassen hat und nicht – wie noch das Landgericht – davon ausgegangen ist, dass die Klägerin sich so entschieden hätte, wie es vielleicht die meisten Patienten tun würden, ist erwähnenswert. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, der individuell entscheiden darf und soll, welche Behandlung mit welchen Risiken er wünscht und der dabei nicht rational entscheiden muss, wird durch solche Urteile gestärkt.